Klassik, Jazz & indigene Musik verwoben

World-Pianist Jean Kleeb

(25.07.2023)

Jean Kleeb ist Komponist und Pianist, in Brasilien geboren und aufgewachsen und lebt seit seinem 28. Lebensjahr in Deutschland. Seine Herzensangelegenheit ist es, die verschiedenen Stile der Welt, von klassischer Musik, über Jazz zu indigener Musik, zu verweben, so wie auch Mensch und Natur miteinander verknüpft sind. Im Interview spricht er u. a. darüber, was Weltmusik ausmachen sollte, wie viel Jazz in Josquin und Wagner steckt und welche Rolle sein aktuelles Projekt, die Umweltkantate „Protecting Earth“, spielt.

Jean Kleeb |

Homepage: https://jeankleeb.com/

Jean Kleeb, geboren in Santo André, Brasilien, ist ein vielseitiger Musiker, Komponist, Kantor und World-Panist. Seine musikalische Ausbildung umfasst verschiedene Stile, darunter Jazz, Klassik, brasilianische Musik und Worldmusic. Mit mehr als 100 Kompositionen, verlegt beim Bärenreiter-, Bosse oder Helbling-Verlag, ist er als freischaffender Musiker tätig und leitet mehrere Ensembles, darunter den Chor „Joy of Life“ der Kurhessischen Kantorei Marburg, den Chor "Vozes do Brasil" und den Kammerchor Klangfarben Gießen.

Alle Noten von Jean Kleeb

Vollständige Biographie

Jean Kleeb wurde in Santo André, Brasilien, geboren. Mit neun Jahren begann er Klavier zu spielen und anschließend besuchte er die Musikschule für Jazz und populäre Musik Fundação das Artes de São Caetano do Sul. Dort lernte er verschiedene musikalische Richtungen der Musik kennen, u.a. den vielfältigen brasilianischen Stil.

Bereits mit 16 Jahren begann er sein Studium der Schulmusik an der Universität von São Paulo, das er 1984 abschloss. Anschließend absolvierte er bis 1988 ein Kompositionsstudium. Chorleitung studierte er bei Marco Antonio da Silva Ramos und Komposition bei Willy Correa de Oliveira. Klavier studierte er unter anderem bei Gilberto Tinetti und Eduardo Martins und entwickelte sich zudem autodidaktisch weiter, vor allem im Bereich der modernen sowie der südamerikanischen Jazz und modernen Musik.

Während dieser Zeit begann er Chöre zu leiten und nahm an Workshops für Chor- und Orchesterleitung mit renommierten Dirigenten teil, wie z.B. bei Eric Ericson aus dem Staatlichem Chor Stockholm.

1991 kam er nach Deutschland, wo er seine Tätigkeit als Komponist, Pianist, Arrangeur, Chor- und Orchesterleiter, Sänger und Musiklehrer fortsetzte. In Stuttgart besuchte er die Freie Hochschule Stuttgart für Waldorfpädagogik und 1992 zog er nach Marburg. Bis 2001 war er Musiklehrer der Waldorfschule Marburg und seitdem freischaffender Musiker.

Von 2002 bis 2005 arbeitete er als Lehrbeauftragter für lateinamerikanische Musik und Improvisation am Musikinstitut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist eingeladener Dozent und Workshop-Leiter an verschiedenen Universitäten, Schulen, Tagungen und Kongressen. u.a. bei Chorcom, VdM und den Veranstaltungen der Verlage Bärenreiter und Helbling. Regelmäßig gibt er Kurse über seine Werke in Deutschland, Schweiz, Österreich, Holland, Spanien, USA, Argentinien und Brasilien.

Darüber hinaus ist er Jury-Mitglied bei internationalen Chorfestivals wie z.B. bei Grand Prix of Nations 2019 in Göteborg (Schweden) und beim Chorfest der Deutschen Chorverbandes.

Früh begann er zu komponieren. Seine Kompositionen für Orchester, Kammermusik, Klavier und Chor erstrecken sich stilistisch von Musik der Moderne, der Klassik, der Popularmusik bis hin zur Weltmusik. Inzwischen sind es mehr als 150 Werke.

Herausgabe von zahlreichen Musikbüchern und CDs u.a. bei Bärenreiter, bei Gustav Bosse und beim Helbling Verlag, Carus Verlag, Edition Ferimontana. Insgesamt 12 Klavierzyklen mit Eigenkompositionen zwischen Jazz, Klassik und Latin; zeitgenössische Chorwerke von deutscher Lyrik, südamerikanische Chorstücke und geistliche Werke wie z.B: Kantate an die Heilige Elisabeth, Welt-Magnificat, Missa Brasileira und Luther! Ein Weltmusik Oratorium zum Reformationsjahr 2107. Zum Beethovenjahr 2020 komponierte er die Klavierzyklen Beethoven goes Jazz und Beethoven around the world. Letztes komponierte er die Kantate Ipirungaua – Amazonas for Future über die Schöpfungsgeschichte im Amazonas (Brasilien) und das Singspiel „Zauber der Freiheit“ zur Verarbeitung der Hexenverfolgung in Marburg im 16 Jh.

Er ist Leiter mehrerer Ensembles u.a. Kammerchor Klangfarben (Gießen), Chor „Joy of Life“ der Kurhessischen Kantorei Marburg und Chor „Vozes do Brasil“ (Köln). In Anerkennung zu seiner langjährigen Tätigkeit in der Evangelischen Kirche Deutschlands wird er im Jahr 2022 zum Kantor ernannt.

Lieber Herr Kleeb, Sie bezeichnen sich als World-Pianist, wie würden Sie das definieren?

Jemand, der wirklich verschiedene Kulturen in sich aufgenommen hat und aufs Klavier überträgt, kein rein klassischer oder Jazzpianist ist, aber viele Stile interpretieren kann und Querverbindungen sucht.

Bevorzugen Sie einen Musikstil?

Mein Lieblingsstil ist die Kommunikation zwischen den Stilen, zwischen westlicher, afrikanischer und lateinamerikanischer Musik. In Elementen, die zusammenpassen, und anderen, die konträr sind – in dieser Spannweite bewege ich mich und finde Wege, um das auszudrücken, was dazwischen liegt.

Viele Menschen mögen sagen: Ich kenne Klassik und ich kenne Latin, aber noch nicht diese Verbindung dazwischen. Ich will eine künstlerische Verbindung schaffen und überlege mir dabei: Wo ist die Essenz, was kann ich instrumental gebrauchen, ohne dass es addiert wird oder sich wiederholt? Ich kreiere neu, aber habe zwei oder drei musikalische Welten, wie z. B. Klassische Musik, Jazz und brasilianische Musik.

Was oder wer hat Sie zum Komponieren inspiriert?

In meiner Jugend war ich in einer Musikschule in São Paulo, wo ich mit 12 Jahren alle Stile kennengelernt habe. Harmonielehre, Kontrapunkt, Rhythmen aus Brasilien. Die besten Jazz-Musiker Brasiliens waren einmal pro Woche dort und haben uns unterrichtet.

Ich habe dort schon angefangen, zu schreiben und Ideen zu entwickeln. Natürlich habe ich auch im Studium in São Paulo orchestrieren gelernt, aber mir auch sehr viel autodidaktisch beigebracht.

Der Zugang zur Musik als freie Musik, für die man sich einfach irgendwo hinsetzt und spielt, ist mir besonders wichtig. Es hat lange gedauert, bis ich meine erste Komposition hatte, mit der ich zufrieden war, und bis ich meinen Stil gefunden habe. Das war erst, als ich hier in Deutschland war mit über 30 Jahren, also wahrscheinlich auch den nötigen Abstand zu meiner Heimat und Ausbildung hatte.

Was ist jetzt Ihre größte Inspiration?

Die Faszination mit dem Kontrapunkt verschiedener Musikstile, wenn sie korrespondieren und Gegensätze zeigen können. Letztes Jahr habe ich eine Symphonie geschrieben und bin aktuell besonders fasziniert von Orchesterklängen.

Auf welches Stück sind Sie am meisten stolz?

Es gibt ein „Magnificat“ über viele Kulturen, die zusammenkommen, das noch nicht verlegt ist. Dazu meine „Missa Brasileira“, die in vielen Ländern enormen Anklang findet, weil da anscheinend etwas gelungen ist, was lange sein sollte, aber noch nie realisiert wurde: die Verbindung vom liturgischen Text mit den Stilen aus Brasilien, auf einem künstlerischen Niveau, bei dem beide Seiten, sowohl die europäische / iberische als auch die brasilianische Musik, zur Geltung kommen. Da hat man das Gefühl, dass man was komponiert hat, was es noch nicht gab.

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Die meisten Europäer verbinden mit lateinamerikanischer Musik Freude und Tanz – stimmt das denn?

Für mich ist es anders. Die Musik hat auch eine sehr tiefgehende Seite, hat eine Tiefe in den Klängen, die man in dieser Art hierzulande eher in der Renaissance-Musik findet. Die brasilianische Musik wurde ja von den Spaniern und Portugiesen beeinflusst und es werden die Kirchentonarten benutzt, die die Jesuiten nach Lateinamerika gebracht haben.

Die brasilianische indigene Musik hat ursprünglich nicht in tonalen Zusammenhängen gelebt, das hat sich erst in den letzten 500 Jahren angenähert.

Wie viel Jazz steckt in klassischer Musik?

Ich sehe es so: Die Jazzmusik ist eine Art Befreiung von den normalen, harmonischen, tonalen Zwängen, ohne den tonalen Zusammenhang zu verlieren. Es ist eine erweiterte Tonalität, die es genauso schon in der Renaissance gab. Ich denke, dass sich unsere Ohren im 20. Jahrhundert auf eine gewisse klassische Art, zu spielen und zu hören, konzentriert haben. Wenn ich aber eine Messe von Josquin Desprez aufführe, höre ich Jazz-Akkorde, teils auch bei Giovanni Pierluigi da Palestrina. Bestimmte Klänge wurden durch den Jazz klarer offengelegt und direkter benutzt als früher.

Als ich jetzt das „Parsifal“-Arrangement gemacht habe, war ich vollkommen begeistert, denn mir wurde klar, dass Wagner in der gleichen Harmonik denkt. Es ist wirklich wie die höchste Form von Jazz, in der er schreibt, aber natürlich nicht im gewohnten „Jazzklang“. weil die Musiksprache sich unterscheidet. Aber in der Essenz ist er nicht weit weg von Jazz.

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Wie wählen Sie die Themen aus, über die Sie komponieren / schreiben?

Ich schreibe immer mit dem Gefühl, dass die Musik im kollektiven Bewusstsein der Menschen präsent ist, aber ich erst noch selbst verwirklichen will.

Zuerst schreibe ich noch keinen Ton, sondern es beginnt mehr mit einem Gefühl, bis ich die richtigen Impulse habe. Erst nach einem langen Prozess beginne ich zu schreiben. Ein bisschen so, wie Wagner das gemacht hat (lacht). Man hört bei „Parsifal“ in jeder Sekunde, dass irgendein Thema klingt. Alles ist in irgendeiner Form mit den Leitmotiven verwoben.

Ich habe manchmal schon musikalische Vorstellungen in Form von Akkorden, aber meistens gibt es erst eine intensive Beschäftigung mit dem Inhalt und den Empfindungen, ich lese auch viel.

Sie schreiben an einer Kantate für die Erde, wie kam es dazu?

Ich war erstaunt, wie wenig Werke darüber komponiert werden. Die meisten Musiker sind da irgendwie am Schlafen. Vor allem über den Bezug des Menschen zum Wald und die Erhaltung von Wald sollte man schreiben – also habe ich damit angefangen!

Allerdings ist es so schwierig, zu dem Thema zu komponieren, ohne politisch zu werden oder in eine Schiene zu geraten, die zu sehr pauschalisiert. Nur zu schreiben, dass der Wald brennt und wir etwas dagegen unternehmen müssen, geht mir nicht weit genug. Ich habe dann ein halbes Jahr lang viele Bücher und z. B. Gedichte der indigenen Bevölkerung in Brasilien gelesen, die die aktuellen Ereignisse thematisieren. Jetzt habe ich endlich das Gefühl, dass ich für das Thema reif bin, und ich weiß, wovon ich schreibe. Nur so kann ich das, mit der nötigen Tiefe, statt oberflächliche Phrasen zu dreschen.

Wenn Sie mit jemandem zusammenarbeiten könnten, wen würden Sie wählen?

Mit Johann Sebastian Bach würde ich mich unterhalten, weil er für mich ein Komponist ist, der aus sich heraus eine unglaubliche Tiefe und gleichzeitig ein handwerkliches Geschick hat, sodass er unmittelbar in Noten transportieren kann, was er denkt.

Ich schreibe gerade auch „Bach goes World“ für Bärenreiter, wo ich aus der Musik von Bach heraus Einflüsse aller Welt verwebe. Ich sehe ihn als Bindeglied zwischen alter und neuer Musik. Er hat noch das ganze Wissen der alten Musik und gleichzeitig die absolute Freiheit, etwas Neues zu schreiben.

Welche Musik hören Sie, wenn Sie allein sind?

Ich höre selten Musik privat. Ich spiele ja selbst immer und leite Chöre. Moderne Chormusik höre ich gerne, aber auch ganz alte Musik von Guillaume de Machaut und Heinrich Isaac.

Herzlichen Dank, Herr Kleeb, für das interessante Gespräch!

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