Historisch informiert – warum sich ein Einblick in die Welt der Alten Musik lohnt

von Sabine Gassner (14.12.2022)

Alte Musik möglichst authentisch und auf historischen Instrumenten aufzuführen, ist im Laufe der letzten Jahre immer beliebter geworden. Expertenensembles sprießen aus dem Boden und auf den Spielplänen der Opernhäuser gehören Barockopern mittlerweile zum gutem Ton. Doch was versteht man eigentlich genau unter Alter Musik und historischer Aufführungspraxis?

Mannheim im Jahr 2018. Ich sitze mit meiner Barockposaune im Orchestergraben der hiesigen Oper und warte auf meinen Einsatz. Neben mir befinden sich Zinken, Blasinstrumente, die eine solche Fülle an Tönen spielen können, dass einem schwindelig wird. Vor mir sitzen Barockgeigen, Gamben und Lauten, imposante Riesengitarren mit unzähligen Saiten. Ganz vorne, wo sich sonst das Dirigentenpult befindet, steht ein Cembalo, von dem aus dirigiert wird.

Dieser Klangkörper aus historischen Instrumenten, dem auch ich mit meiner Barockposaune angehöre, erweckt gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne eine Oper aus einer lang vergangenen Zeit zum Leben. Musik, die fast 400 Jahre alt ist, und dennoch mitten ins Herz trifft. So frei und mit der Musik verbunden habe ich mich bis dahin nur selten beim Musizieren gefühlt. Mein Erstkontakt mit einer Oper des Renaissancekomponisten Claudio Monteverdi in einem waschechten Barockorchester war für mich wie eine Offenbarung.

Ohne Zweifel ist es im Laufe der letzten Jahre immer beliebter geworden, Alte Musik möglichst authentisch auf historischen Instrumenten erklingen zu lassen. Genau das verbirgt sich hinter dem sperrigen Begriff der ‚historischen Aufführungspraxis‘. Auf den Spielplänen der Opernhäuser gehört es inzwischen zum guten Ton, Expertinnen und Experten, oder gleich ganze Barockorchester, für die Umsetzung von Barockopern zu verpflichten. Auf Alte Musik spezialisierte Ensembles erobern die Konzertsäle und prägen das Konzertleben nicht nur hierzulande. Doch was versteht man eigentlich genau unter Alter Musik? Was macht die Faszination daran aus und was kann man sich aus dieser Szene für das eigene Musizieren abschauen?


© Lukas Diller

Zur Autorin

Sabine Gassner wuchs im Chiemgau auf und studierte in Würzburg und Stuttgart Posaune. Ihre Spezialisierung auf die historische Posaune vertiefte sie anschließend durch ein Studium an der Schola Cantorum Basiliensis. Sie ist als Pädagogin an einer kleinen Musikschule tätig und mit ihrer Barockposaune im In- und Ausland u. a. mit Ensembles wie der Lautten Compagney Berlin, Capella de la Torre oder ihrem eigenen Ensemble Belvento unterwegs.

Alte Musik – was ist das?

Technisch gesehen vereint man unter dem Begriff Alte Musik die Musik, die zwischen Mittelalter und Barock entstanden ist. Während sich das Mittelalter, das vor allem durch Gregorianische Choräle geprägt ist, nur langsam an die Mehrstimmigkeit (Polyphonie) heranwagt, hat die darauffolgende Epoche – die Renaissance – schon komplexere Musik zu bieten. Aus der Renaissance kennen wir große Namen wie Josquin Desprez oder Orlando di Lasso. Die Instrumente gewinnen in dieser Zeit an Selbstständigkeit im musikalischen Satz und folgen nicht mehr nur dem Gesang. Schließlich kommen wir zu Claudio Monteverdi und dem Beginn des Barocks. Hier liegt der Fokus auf der Ausgestaltung expressiver Melodien, die dazu geeignet sein mussten, beim Hörer Emotionen und Affekte auszulösen. Monteverdi gilt für viele als Erfinder der Oper, was mich immer noch verblüfft, denn so alt diese Musik im wahrsten Sinne ist, so zeitlos schön ist sie auch. Den fulminanten Schlusspunkt unserer zeitlichen Einordnung setzt kein Geringerer als Johann Sebastian Bach. Sein Tod 1750 markiert das Ende des Barockzeitalters und damit auch der Alten Musik.

Welche Instrumente gab bzw. gibt es?

Tatsächlich ereilte die Urahnen unserer heutigen Instrumente ein langer Dornröschenschlaf, ehe man sie ab 1900 ganz langsam wieder aufleben ließ. Es sollte aber noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bis sich wieder mehr und mehr Musizierende für die alten Schätze interessierten und sich der historischen Aufführungspraxis widmeten. So kamen erst ab den 1970er Jahren Instrumente wie beispielsweise die Schalmei, Pommern, historische Posaunen oder der Zink zurück auf Deutschlands Bühnen. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass es sich bei vielen Instrumenten, die ich hier einfach historische Instrumente nenne, in Wirklichkeit um Nachbauten der Originale handelt. Heute zählt das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) hierzulande über 200 professionelle Ensembles im Bereich der Alten Musik. Neben den oben genannten Blasinstrumenten gibt es noch jede Menge weiterer historische Instrumente, wie die Gamben, Barockviolinen oder diverse Tasteninstrumente. Diese und viele mehr kann man sich beispielsweise im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg genauer ansehen. Dessen Musikinstrumentensammlung enthält Instrumente aller Gattungen aus dem Bereich der Alten Musik ab dem 16. Jahrhundert.

Doch warum lohnt es sich überhaupt, sich diesen doch längst überholten Instrumenten anzunehmen? Meist sind sie sperrig in der Handhabung, verstimmen sich schnell oder klingen ganz anders als man es heute für schön empfindet. Darauf versuche ich später noch eine Antwort zu geben. Doch werfen wir zuerst einmal einen Blick auf den Werdegang derjenigen, die sich auf Alte Musik spezialisiert haben.

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Wie sieht die Ausbildung aus?

Inzwischen gibt es auch in Deutschland immer mehr Hochschulen mit Abteilungen für Alte Musik. Ich möchte euch hier jedoch eine der wichtigsten Anlaufstellen für die Erforschung und Ausbildung in Europa vorstellen, die Schola Cantorum Basiliensis in Basel. „Unter Alte Musik und Historische Musikpraxis versteht die Schola Cantorum Basiliensis das besondere Verstehen und Aufführen von Musik der Vergangenheit unter Berücksichtigung der historischen Kontexte“, heißt es auf der Website. Hier können Studierende komplett in die Welt der Alten Musik abtauchen. Unter anderem findet man auf ihrem Stundenplan Fächer wie Historischer Tanz, Notationskunde oder Quellen- und Instrumentenkunde.

Quellen zu lesen und zu interpretieren und wissenschaftliche Erkenntnisse auf das eigene Spiel zu übertragen, sind das tägliche Brot der Studierenden. Hier überlässt man nichts dem Zufall. Wagt man sich beispielsweise an schnelle und wilde Verzierungen, sogenannte Diminutionen, hat man selbstverständlich das musiktheoretische Traktat gelesen, das diese Praxis beschreibt. Obwohl das jetzt sehr theoretisch klingt, ist davon in der Praxis wenig zu merken. Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, die beispielsweise mit dem Zink auf der Bühne stehen, sind zumeist wahre Diminutions-Künstler. Dem Auffüllen von Melodielinien sind oft keine Grenzen gesetzt und so brillieren sie, ähnlich wie heutige Lead-Trompeter, über allen anderen. Der Zink gehört übrigens wegen seines Kesselmundstücks zu den Blechblasinstrumenten, obwohl er aus Holz ist und sein Äußeres eher einer gebogenen Blockflöte ähnelt.

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Doch sind es nicht nur die oberen Stimmen, die zu Diminutionen einladen. In stiller Absprache kann jeder die Gelegenheit ergreifen zu diminuieren, sofern die anderen dafür Platz lassen. Die Musizierenden müssen also stets aufmerksam miteinander verbunden sein. Denn all das geschieht ohne vorherige Absprache und aus dem Moment heraus, sodass es nie zweimal die gleiche Fassung eines Stückes geben wird. Diesen Mut, sich auch einmal vom Notentext zu lösen, kann man sich nur abschauen. Es entsteht dabei, ähnlich wie bei der Improvisation im Jazz, eine Freiheit und gleichzeitig macht es auch richtig Spaß sich immer neue Wege auszudenken. Man kann sich herausfordern, Dinge ausprobieren, oder auch nicht, ganz wie es einem gerade zumute ist. Für das eigene Üben kann das sehr inspirierend sein.

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Wie kann ich mich an die Alte Musik heranwagen?

Einfach Trauen! Ja, es gibt viele Quellen und musikwissenschaftliche Abhandlungen, für die es ein Studium braucht, um sie zu lesen und zu verstehen. Doch man muss nicht studiert haben, um sich der Stilistik zu nähern. Ein effektiver Weg, um ein Gespür für das Phrasieren, den Klang oder die Spielart zu bekommen, ist das Zuhören. Hier ein typisches Beispiel aus meiner eigenen Musikpraxis: Zu zahlreichen Anlässen kommen bei Blechbläsern Stücke von Giovanni Gabrieli zum Einsatz. Nun kann man sich als Inspiration entweder die zigste Aufnahme eines Blechbläser-Ensembles anhören, welches das Stück schätzungsweise in einer technisch einwandfreien und sicherlich für das moderne Gehör musikalisch ansprechenden Version verewigt hat. Oder man entscheidet sich dafür, nach einem Alte Musik-Ensemble Ausschau zu halten, das Gabrielis Musik mit dem Hintergrundwissen der historischen Aufführungspraxis erarbeitet hat. Der eigentlich schlichte Notentext bietet viel Interpretationsraum, den es sich lohnt, mit mehr als ‚nur ‘ den Mitteln der modernen Instrumentalausbildung zu beleben. Wagt euch an Aufnahmen dieser Spezialensembles heran, oder besser noch geht in Konzerte. Der Live-Effekt dieser oft improvisierten, freien Musik, den ich am Beispiel der Diminutionen beschrieben habe, ist wirklich stark. Viele Ensembles haben sich inzwischen auch der Musikvermittlung angenommen und versuchen, Interessierte über Workshops oder andere Formate zu erreichen. Auch Verbindungen zu anderen Kunstformen können helfen: Tanzt historische Tänze, zu Hause, im Überaum, mit euren Schülerinnen und Schülern.

Zuletzt, falls es sich nicht schon von alleine geklärt hat, zur Frage nach dem Warum: weil es unglaublich viel Spaß macht, sich frei zu bewegen, andere Perspektiven auszuprobieren, loszulassen. Alte Instrumente mögen vielleicht etwas zickiger sein als unsere modernen Wohlfühl-Apparate, aber angenommen, man sagt sich ein gesundes „na und?“, so eröffnet einem das eine ganze Welt an neuen Möglichkeiten. Alte Musik kann in ihrer Schlichtheit bezaubernd schön sein. Sie kann die Seele berühren und einen mit den Wurzeln der Musikentstehung verbinden. Sie kann aber auch so spritzig und lebendig daherkommen, dass man kaum glauben kann, wie alt sie ist.

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