Streichen mit links

Ein Plädoyer für die individuelle Händigkeit beim Musizieren

von Christine Vogel (13.08.2022)

„Wer mit links streicht, braucht im Orchester zu viel Platz und muss aufpassen, niemandem ein Auge auszustechen…“ Wirklich? Christine Vogel räumt anhand historischer und aktueller Positivbeispiele mit den Vorurteilen über linkshändiges Spiel im Orchester auf.

Zur Autorin:

Christine Vogel hat zusammen mit Sophia Klinke 2021 Linksgespielt ins Leben gerufen. Die Website versteht sich als Informationsplattform für und über ‚andersherum‘ Musizierende auf der ganzen Welt – überwiegend im klassischen Bereich, wo die linkshändige Spielweise nach wie vor kaum verbreitet ist. In Interviews werden Orchestergeschichten, Umlernberichte und kuriose Erlebnisse der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

„Vor jeder Vorstellung rennt ein Bratscher nochmal zu seinem Spind, wirft einen schnellen Blick hinein und geht dann beruhigt zurück an seinen Platz. Die Kollegen sind sehr neugierig, was sich wohl im Spind verbergen mag, und brechen ihn eines Tages auf. Das Fach ist leer; nur an der Rückwand klebt ein Zettel: Bogen rechts, Bratsche links.“

Dass uns der beliebte Bratschenwitz immer wieder zum Schmunzeln bringt, kann nur funktionieren, weil die Haltung der klassischen Musikinstrumente streng genormt ist. Bei Streichinstrumenten etwa lautet die Aufgabenverteilung der Hände grundsätzlich: ‚Bogen rechts, Instrument links‘.

Dabei wirkt es auf den ersten Blick oft so, als habe die linke Hand, deren Finger die Saiten auf das Griffbrett drücken und so die Tonhöhen bestimmen, die komplexeren Bewegungen auszuführen. Die rechte Hand scheint ‚nur‘ den Bogen hin und her zu bewegen. Doch das täuscht:

„Der Klang, die Intention und Richtung der Musik, die Persönlichkeit und die Phrasierung liegen zu 99 % im Bogen“, erklärt uns der französische Geiger Martial Gauthier. Der norwegische Violinprofessor Terje Moe Hansen sieht das ähnlich: „Natürlich sind beide Hände wichtig, aber die Bewegungen der Bogenhand sind länger, haben endlose Kontrastmöglichkeiten und subtile Nuancen und sind deshalb für mich dominant.“

Kein Wunder also, dass sich die meisten rechtshändigen Menschen mit der Aufteilung ‚Bogen rechts, Instrument links‘ pudelwohl fühlen. Gauthier und Hansen aber sind Linkshänder und gehören zu den wenigen Profis im klassischen Bereich, die ihr Instrument von Anfang an mit links gestrichen haben.

Die überwältigende Mehrheit der Linkshänder lernt Streichinstrumente nach wie vor auf die konventionelle rechtshändige Art. Dass linkshändige Kinder oft intuitiv den Bogen in die linke Hand nehmen, ist aber kein neues Phänomen. Schon aus dem 18. Jahrhundert kennen wir dafür zwei recht prominente Beispiele: Carl Philipp Emanuel Bach, einer der Bach-Söhne, und das englische Wunderkind William Crotch. Crotch hat schon früh auf einer Linkshändergeige Konzerte gegeben, wohingegen wir nicht wissen, wie weit Carl Philipp Emanuel Bachs Streichversuche mit links tatsächlich gingen. Über 100 Jahre später verewigte der Linkshänder und passionierte Geiger Charlie Chaplin diese Spielweise in seinen Filmen.

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Nicht bei allen Linkshändigen ist das Bedürfnis, mit ihrer führenden Hand zu streichen, so stark ausgeprägt. Viele passen sich der Norm an. Einige kommen auf dem traditionellen Instrument gut zurecht und spielen professionell auf hohem Niveau. Andere haben Probleme, einen satten Klang zu erzeugen und ihre musikalische Vorstellung am Instrument auszudrücken. Wieder andere leiden unter Schmerzen, motorischen Problemen oder einer generellen Anstrengung beim Spielen und wären vermutlich als Linksstreicher deutlich zufriedener. Klar können Schwierigkeiten am Instrument immer auch andere Gründe haben, aber so ein Bogen in der ‚richtigen‘ Hand wirkt manchmal Wunder!

Und hier die gute Nachricht: Es spricht überhaupt nichts dagegen, linkshändige Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit der Hand streichen zu lassen, mit der sie sich am wohlsten fühlen. Instrumente für Linkshänder sind leicht zu beschaffen und auch im Orchesterspiel ist Linksstreichen mittlerweile vielfach erprobt, ohne dass jemals jemandem ein Auge dabei ausgestochen wurde – entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil.

Das kommt nicht nur Linkshändigen zugute: Wer sich an der Hand verletzt, hat oft keine andere Wahl, als den Bogen mit der Linken zu führen. Solche Fälle sind seit dem 19. Jahrhundert in Profi-Orchestern nachweisbar, auch heute noch. Dazu kommen etliche ‚echte‘ Linkshändige, die sich, jedem Widerstand zum Trotz, dazu entschieden haben, mit ihrer dominanten Hand zu streichen.

Oft wird behauptet, wer mit links streicht, brauche im Orchester zu viel Platz, störe ein einheitliches Bild und irritiere die anderen. In seinem Buch Musizieren mit links hat Walter Mengler das längst entkräftet. Tatsächlich wird kaum mehr Platz benötigt und das Kollegium gewöhnt sich rasend schnell daran. Wer ein linksspielendes Mitglied auf dem Foto oder Video eines Orchesters in Aktion lokalisieren will, braucht dafür meist erstaunlich lange.

Es ist auch ein Trugschluss, zu glauben, dass Orchester grundsätzlich keine Linksspielenden aufnehmen würden. Warum in professionellen Ensembles noch kaum mit links gestrichen wird, hat nicht damit zu tun, dass im Bewerbungsprozess sofort aussortiert würde. Bislang gibt es einfach kaum Bewerbungen Linksspielender auf offene Orchesterstellen.

Erfolgreiche Vorbilder finden sich schon weltweit, z. B. in Argentinien (Gerardo Solórzano, Geiger im Orquesta Sinfónica de Salta), Mexiko (Abner Jairo Ortiz García, Cellist im Orquesta Sinfónica Nacional), Kanada (Filip Stasiak, Kontrabassist im Niagara Symphony Orchestra) oder Belgien (Hans-Ludwig Becker, 2. Solocellist in der Opera Ballet Vlaanderen)...

Mehr Beispiele findest Du auf Linksgespielt.

Für die Linksspielenden selbst ist ihre Spielweise so normal, dass sie im Alltag nicht darüber nachdenken. Für das Publikum ist das manchmal anders. Bei den Bad Reichenhaller Philharmonikern streicht Franz Slaboch seit über 30 Jahren mit links und wird immer noch „fast täglich“ nach Konzerten angesprochen, aber das Feedback ist stets positiv. Auch er hat als Linkshänder von Anfang an mit links gestrichen, weil er weiß: „Die Erzeugung des Tons ist die Seele des Geigenspiels.“

Es könnte sein, dass wir bald um einen Bratschenwitz ärmer sind, denn händigkeitsgerechtes Musizieren erobert zunehmend auch den klassischen Bereich. Aber was ist schon der Verlust eines Witzes gegen den Gewinn an Spielfreude und Wohlbefinden für unzählige linkshändige Musikerinnen und Musiker auf der ganzen Welt?

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