„Die Illusion, es sei für beide Hände geschrieben.“

Paul Wittgenstein und das Klavierrepertoire für linke Hand

von David Rauh (20.08.2021)

Ravels Klavierkonzert in D-Dur, Prokofjews 4. Klavierkonzert in B-Dur, Hindemiths Klaviermusik mit Orchester – sie alle haben eins gemeinsam: Der Klavier-Solopart ist nur für die linke Hand geschrieben. Warum gibt es eigentlich Klaviermusik, die sich nur auf eine Hand beschränkt? Wir werfen einen Blick auf das Repertoire und ergründen, welche Rolle der Pianist Paul Wittgenstein (1887 – 1961) dabei spielt.

Die linke ist für die meisten im Alltag die schwächere Hand, für Musiker ist sie aber mindestens ebenso essentiell wie die rechte. Streicher könnten ohne sie nur die vier Töne der leeren Saiten produzieren, Gitarristen kämen über sechs Töne kaum hinaus, auch Bläser hätten eine kleinere Auswahl an Tönen zur Verfügung, Trommler und Pauker könnten nicht ‚wirbeln‘. Kurzum: Wer wirklich sein Instrument voll ausschöpfen möchte, braucht beide Hände. Für Klavier gibt es dennoch überraschend viel Literatur für eine Hand, vor allem für die linke. Wie kommt das?

Die Grundvoraussetzung ist: Am Klavier kann man mit einer beliebigen Hand jeden Ton spielen. Den Händen sind zwar häufig eindeutige Funktionen zugeordnet (links für Bass und Harmonie, rechts für Melodie), diese können jedoch beliebig vertauscht werden. Würden Pianisten nur eine Hand benutzen, wäre ein sehr ähnliches Klangergebnis wie mit zwei Händen möglich.

Obwohl beide Hände potenziell gleich eingesetzt werden können, verlassen sich Rechtshänder zumeist mehr auf ihre starke Hand – noch dazu die ‚Melodiehand‘ – besonders im Anfängerrepertoire wird diese bevorzugt ‚trainiert‘. Aus diesem Grund entstanden im 19. Jahrhundert Übungen zur bewussten Stärkung der Linken. Hermann Berens verfasste z. B. Die Pflege der linken Hand im Klavierspiel op. 89. Carl Czernys Schule der linken Hand op. 399 und 24 Etüden für die linke Hand op. 718 verlangen zwar beide Hände, jedoch steht die linke dort eindeutig im Vordergrund.

Es kann auch rein musikalische Gründe haben, wieso sich jemand nur für die linke Hand entscheidet. Johannes Brahms verfasste seine Klavierbearbeitung von Bachs Chaconne für linke Hand allein, weil er sich nur so eine Annäherung an das Original für Violine vorstellen konnte:

„Nur auf eine Weise finde ich, schaffe ich mir einen, sehr verkleinerten, aber annähernden u. ganz reinen Genuß des Werkes – wenn ich es mit der linken Hand allein spiele! Mir fällt sogar dabei bisweilen die Geschichte vom Ei des Columbus ein! Die ähnliche Schwierigkeit, die Art der Technik, das Arpeggiren, alles kommt zusammen mich – wie einen Geiger zu fühlen!“

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Einarmige Pianisten

Der vielleicht wichtigste Grund für Klavierstücke für linke Hand ist aber die körperliche Verfassung: Wenn die rechte Hand nicht eingesetzt werden kann, weil sie z. B. vorübergehend eingegipst ist, weil sie aufgrund einer Krankheit nicht richtig reagiert oder ganz fehlt, dann freut sich jeder Pianist, wenn es für die andere Hand etwas Sinnvolles zu spielen gibt.

Graf Geza Vasony-Teo von Zichy (1849 – 1924) beispielsweise verlor seinen rechten Arm mit 14 Jahren bei einem Jagdunfall. Er wollte dennoch nicht aufs Klavierspielen verzichten und bearbeitete und komponierte dementsprechende Stücke und hatte damit Erfolg: Er gilt als der erste international bekannte einarmige Pianist und Komponist. Seine Stücke und Bearbeitungen zogen aber nicht sehr weite Kreise.

Erst die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit ihren zahlreichen Kriegsversehrten erhöhte, so zynisch es klingen mag, den Bedarf an Repertoire für einarmige Pianisten. Zu den durch diesen Krieg gezeichneten Figuren zählt Paul Wittgenstein (1887 – 1961), Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein. 1913 sah er noch eine glänzende Karriere als gewöhnlicher Konzertpianist vor sich – seine ersten Konzerte in Wien finanzierte er selbst, mitsamt Orchester, Dirigent und Saalmiete! Doch schon zu Beginn des Weltkriegs wurde er am rechten Arm angeschossen; es folgte eine Amputation.

Wittgensteins Ambitionen ließen sich aber nicht trüben: Noch während seiner Kriegsgefangenschaft bat er seinen Lehrer Josef Labor um ein Konzertstück für linke Hand und Orchester. Er übte sich in Fingergymnastik und kräftigte seine Linke am Punchingball eines Boxclubs. Er nahm sich Fingerübungen speziell für die linke Hand vor und fertigte eigene Transkriptionen von Stücken bekannter Komponisten wie Bach, Schumann, Mendelssohn und anderen an. Bereits Ende 1915 gelang Wittgenstein das unerwartete Comeback, mit großem Erfolg: „Aus dem Spiel dieser Linken klingt keineswegs die Wehmut heraus, keine Rechte zu besitzen, vielmehr der Triumph, sie so leicht entbehren zu können.“ (Julius Korngold)

Wittgenstein, der schließlich eine steile Karriere als Pianist hinlegte, vergab viele weitere Kompositionsaufträge, da er befürchtete, dass die Bearbeitungen für eine Hand vom Publikum den Originalen für zwei Hände als unterlegen angesehen würden. So entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein konzertantes Repertoire für Klavier linke Hand, das auch nach Wittgenstein seine Bedeutung behält.

Werke für Wittgenstein

Das bekannteste der für Wittgenstein geschriebenen Werke ist Maurice Ravels Concerto pour la main gauche in D-Dur. Er komponierte das Konzert zwischen 1929 und 1930, parallel zu seinem Klavierkonzert in G-Dur.

Ravels Anspruch war, „dass man nicht den Eindruck eines leichten Klanggewebes erweckt, sondern im Gegenteil die Illusion gewinnt, es sei für beide Hände geschrieben.“ Diese Illusion gelingt vor allem durch die Aufrechterhaltung eines breiten Tonraums sowie durch rhythmische Unabhängigkeit mehrstimmiger Elemente.

Beide Elemente werden in den zwei Themen jeweils vom Klavier solo exemplarisch vorgeführt: Im ersten Thema folgen nach jedem anhaltenden Akkord der Melodie Nachschläge im Bass. So wirken beide Elemente wie von zwei Händen getrennt gespielt, obwohl sie in Wirklichkeit über die Pedale des Klaviers zusammengehalten werden. Die verschiedenen Ebenen des zweiten Themas – nun in enger Lage – werden rhythmisch getrennt: Während die Begleitung in durchgehenden Achteltriolen verläuft, ist die Melodie hauptsächlich im Zweier-Metrum und rhythmisch freier angelegt.

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Wittgenstein war nicht immer mit seinen Auftragskompositionen zufrieden. Seine Beziehung zu Ravel verschlechterte sich, als der Komponist Wittgenstein zum ersten Mal das Konzert in D-Dur spielen hörte, dessen Notentext der Pianist stellenweise äußerst frei interpretierte. Das bei Prokofjew in Auftrag gegebene 4. Klavierkonzert op. 53 und die von Hindemith erbetene Klaviermusik mit Orchester op. 29 führte Wittgenstein dagegen gar nicht auf, weil sie nicht seinen Geschmack trafen.

Beide Werke wurden schließlich von anderen invaliden Pianisten uraufgeführt: Prokofjews Konzert 1956 von Siegfried Rapp, der im Zweiten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, und Hindemiths Klaviermusik 2004 mit Leon Fleisher am Klavier. Dieser litt ab Mitte 30 an einer fokalen Dystonie, die die Funktionalität seiner rechten Hand über Jahrzehnte stark eingeschränkt hatte.

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Klavier für eine Hand = halbes Werk?

Eine der fruchtbarsten Kooperationen entwickelte Wittgenstein mit Franz Schmidt. Der konservative Komponist verfasste zwei Klavierkonzerte, drei Quintette und eine Toccata in d-Moll für den Pianisten, die dieser auch immer gerne spielte. Abgesehen vom Quintett in A-Dur: Dieses kam aufgrund biographischer Umstände durch Friedrich Wührer zur Aufführung – in einem eigenen Arrangement für zwei Hände. Daneben schrieb der Pianist auch die Konzertanten Variationen über ein Thema von Beethoven und das Quintett in B-Dur um, angeblich mit dem Segen des (zu Lebensende verwirrten) Komponisten. Wittgenstein war darüber nicht sehr erfreut. Schließlich hatte er die Kompositionsaufträge finanziert. Lange Zeit waren sogar nur diese Versionen für zwei Hände im Druck erhältlich. Erst in diesem Jahrtausend wurden die Originale für linke Hand wiederentdeckt und herausgegeben.

Eine solche Situation wirft Fragen der Werktreue auf: Wie sollten Pianisten mit zwei funktionierenden Händen mit Werken für linke Hand umgehen? Wäre nicht mehr möglich, wenn es auch einen Part für die rechte Hand gäbe, der das Werk ‚vollständiger‘ machen könnte? Alfred Cortot hat sich beispielsweise dafür entschieden, das Klavierkonzert von Ravel zweihändig mit eigenen Ergänzungen aufzuführen. Prokofjew stellte zumindest Überlegungen an, ob er sein viertes Klavierkonzert später auch mit einer zweiten Hand ausstatten wollte, doch er ließ die Idee wohl recht schnell wieder fallen.

Eines wird in jedem Fall klar, wenn man sich die Werke für linke Hand anhört: Es ist wunderbare Musik, die nichts missen lässt, weil sie genau für diese spezifische Ausführung konzipiert wurde. Darüber hinaus erfreuen sich Menschen, die ihre rechte Hand (temporär oder permanent) nicht einsetzen können, an einem spannenden Repertoire, das ganz eigenständig neben der zweihändigen Klaviermusik existiert.

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Wenn du einen tieferen Einblick in die Fülle der Kompositionen für Klavier linke Hand gewinnen möchtest, dann sei dir die Website des Musikwissenschaftlers Hans Brofeldt ans Herz gelegt:

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