Wie klingt der Wald?

Ein Gespräch über den Wald in der Musik

zwischen Georg Högl und Holger Slowik (22.04.2022)

Der Wald hat eine erstaunliche Verwandlung durchgemacht: vom Ort vielfältiger Gefahren hin zu einem geschützten Ort unberührter Natur. Er dient als Seismograph für den Zustand der Umwelt im Allgemeinen. Aber welche Rolle spielt der Wald in der Musik? Schallen aus dem Wald tatsächlich hauptsächlich Jagdhörner und Vogelgezwitscher heraus? Holger Slowik vom Stretta Journal hat sich mit dem Musikwissenschaftler Georg Högl, einem Experten für den Wald in der Musik, unterhalten.

Holger Slowik: Denke ich an den Wald in Zusammenhang mit Klängen und mit Musik, assoziiere ich sofort: Waldesrauschen und Vogelgesang, den Schall des Jagdhorns und den Klang eines Männerchores. Bin ich ein hoffnungsloser Romantiker?

Georg Högl: Es gibt diese romantische Vorstellung des Künstlers, der sich mit Stift und Papier an einem bequemen Platz im Wald niederlässt, um dort sozusagen unmittelbar, „objektiv“ und unverfälscht niederzuschreiben, was ihm „die Natur“ zuflüstert. Tatsächlich unterliegt unsere Wahrnehmung der Umwelt aber immer vielfältigen Einflüssen, sie ist durch subjektive Erinnerungen, unsere augenblickliche Stimmung und kulturelle Prägungen überlagert – wie zum Beispiel auch durch unseren musikalischen Erfahrungshorizont. Und deshalb spielen solche Klischees der „Waldvertonung“, etwa stilisierte Hörnersignale oder die Nachahmung von Vogelstimmen und Windgeräuschen, schon eine wichtige Rolle. Denn selbst wenn wir uns als Musikerinnen und Musiker davon bewusst loslösen wollen, ist genau das ja auch wieder eine Form der Beeinflussung. Schon am Begriff „Vogelgesang“ lässt sich übrigens diese kulturelle Prägung unserer Naturwahrnehmung ganz gut aufzeigen: Biologisch betrachtet haben die Lautäußerungen der Vögel ja nur sehr entfernt etwas mit unserem Singen zu tun, und doch gleichen wir sie unbewusst mit unseren musikalischen Erfahrungen und Maßstäben ab und meinen dann beispielsweise Tonleitern oder Akkorde, lustige oder klagende Melodien heraushören zu können.

HS: Kann man sagen, ab wann der Wald in der Musik thematisiert wird?

GH: Im Rückblick auf die Musikgeschichte lassen sich gewisse Traditionsstränge der musikalischen Walddarstellung verfolgen, die weit zurückreichen. Beispielsweise werden schon in Madrigalen des 16. Jahrhunderts Echo-Nachahmungen eingesetzt – schließlich war Echo in der Antike der Name einer Waldnymphe. Angeregt durch die romantische Literatur, vor allem die Romane und Gedichte Ludwig Tiecks und Joseph von Eichendorffs, erlangte dann im 19. Jahrhundert besonders das Waldhorn große Bedeutung für die Walddarstellung. Das ist aus historischer Sicht ein interessanter Vorgang, denn das ursprüngliche Bindeglied zwischen Wald und Horn, nämlich die Jagd, bei der eben Hörner als Signalinstrumente dienten, spielte dabei ab einem gewissen Zeitpunkt so gut wie keine Rolle mehr. Vielmehr galt der Hornklang nun als besonders beseelt und „naturnah“. Er brachte die Sehnsucht nach der Ferne zum Ausdruck – und für eben diese Ferne, in der man die Alltagswelt weit hinter sich lassen, ja sogar sich selbst vorübergehend verlieren kann, stand auch der Wald, die idyllische „Waldeinsamkeit“.

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HS: Dafür ist der Beginn von Bruckners 4. Sinfonie, der „Romantischen“, ein gutes Beispiel: Das berühmte Solo des Horns über einem „Urgrund“ der leise tremolierenden Streicher. Das ist Natur pur! Auch, weil die Melodie sich erst allmählich aus den elementaren Dreiklangstönen löst. Bruckner selbst hat, laut einer wenig verlässlichen Überlieferung, diesen Beginn als romantische Morgenstimmung in einer mittelalterlichen Stadt erklärt, das Horn rufe „vom Rathause herab den Tag aus“. Das scheint mir eine viel zu „zivilisierte“ Erklärung für diese weltentrückte Musik, die erst nach und nach Raum und Zeit definiert.

GH: Allgemein lässt sich vielleicht beobachten, dass bei den vielfältigen Versuchen, „Natur“ in einer Komposition fassbar zu machen, oftmals bestimmte musikalische Gesetzmäßigkeit wie etwa Metrum oder Harmoniefolge bewusst ausgehebelt werden; eben damit Natur als etwas Anderes erfahrbar wird – als Etwas, das gewissermaßen außerhalb der Regeln der Kunst steht. Und gerade deshalb lässt sich so etwas wie ein fester Katalog mustergültiger, im Notentext erkennbarer „Waldvertonungen“ eigentlich kaum aufstellen. Dafür ist Wald auch eine viel zu ambivalente Landschaft, die je nach Kontext ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Stimmungen hervorrufen kann.

HS: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“

GH: Ja genau! Und das bestätigt sich auch mit Blick auf seine künstlerische Gestaltung. Wenn wir uns Waldszenen in der Oper anschauen, dann dient hier die Umgebung oft als eine Art „Seelenspiegel“: Je nachdem, wie die innere, seelische Verfassung des Protagonisten gerade ist, erscheint und klingt auch der ihn umgebende Wald völlig unterschiedlich – etwa zunächst ganz fremd, abstoßend und unheimlich, dann aber vertraut, harmonisch und beschützend. Die Arie „Sombre forêt“ aus Gioachino Rossinis Oper Guillaume Tell ist hierfür ein Beispiel: Da tritt die Figur mit dem Wald geradezu in einen Dialog, und die gefährliche Wildnis wird zur tröstlichen Zuflucht, gerade weil sie so fern von der Zivilisation und den damit verbundenen Konventionen ist. In solchen Fällen ist dann auch nicht mehr eindeutig zu entscheiden, worauf genau hier die Musik Bezug nimmt: Ahmt etwa das geheimnisvolle Tremolo der Pauken ein Geräusch des Waldes nach, oder ist es doch eher ein Ausdruck der inneren Unruhe der Protagonistin? Oder eben beides zugleich, da Mensch und Umwelt hier zu einer harmonischen Übereinstimmung gelangt sind.

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HS: Die gefährliche Wildnis „Wald“ wird zur tröstlichen Zuflucht. Was ich mir vor der Lektüre Deines Buches nie bewusst gemacht hatte: Erst im 19. Jahrhundert wandelt sich der Wald von einem Raum der Gefahr zu einem Ort der Erholung, zu einer, in Märchen und romantischen Gedichten und Erzählungen fast verklärten, heilen Welt der Ursprünglichkeit und des friedlichen Zusammenlebens.

GH: Die Nutzungen des Waldes und sein Erscheinungsbild veränderten sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts in vielen Gegenden Europas stark, und damit einhergehend unterlagen auch die Einstellungen der Menschen gegenüber dem Wald einem Wandel. Übrigens: Die Vorstellung, dass die deutschen Lande „damals“, als die Gebrüder Grimm ihre Waldmärchen sammelten, Eichendorff seine berühmten Gedichte schrieb und Carl Maria von Weber den Freischütz komponierte, noch viel waldreicher waren als heute, ist eine verlockende Täuschung – der Bewaldungsgrad ist heute sogar etwas höher.

HS: Gibt es bestimmte Entwicklungen oder spezielle Ereignisse, die den Wald besonders für eine künstlerische Auseinandersetzung attraktiv gemacht haben?

GH: Ganz allgemein lässt sich wohl sagen, dass bestimmte Gegebenheiten und Themen in den Fokus der öffentlichen und auch künstlerischen Wahrnehmung rücken, wenn sie eben nicht mehr als selbstverständlich gelten, sondern sich Veränderungen abzeichnen, die möglicherweise auch Sorgen und Ängste auslösen. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Wald begegnet man immer wieder der Motivation, mithilfe der Kunst, der Literatur oder Musik etwas festhalten zu wollen, was in der Realität verloren geht: Ein bestimmtes Landschaftsbild, einen vergänglichen Natureindruck, einen früheren, mit eigenen Erinnerungen verknüpften Zustand. Der Wald erlebte solche „Hochkonjunkturen“ der Wahrnehmung beispielsweise gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als vielerorts vor einer drohenden „Holznot“ gewarnt wurde, oder natürlich auch im Zuge der „Waldsterben“-Debatte in den 1980er Jahren. Auch aktuell gerät der Wald aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels wieder stärker in den Blick.

HS: An der Besetzung des Hambacher Forstes, dessen Rodung für den Braunkohletagebau mittlerweile gestoppt wurde, oder des Dannenröder Forstes, der teilweise einer Autobahntrasse weichen muss, zeigte sich erst jüngst wieder die Symbolkraft des Waldes und die Angst vor seinem drohenden Verlust, die Spannung zwischen „Natur“ und „Zivilisation“.

GH: Und so könnte man auch die intensive Auseinandersetzung mit der Waldthematik in der Literatur, Kunst und Musik des 19. Jahrhunderts als Phänomen einer solchen Transformation deuten. Denn einerseits ging im Zuge der Verstädterung und Industrialisierung für viele Menschen der alltägliche, praktische und oft auch sehr mühsame Bezug zum Wald verloren. Das ermöglichte die Idealisierung, denn für den Städter war der Wald nun in erster Linie ein Naherholungsort zum Spazieren. Ein Ort also, der nichts mehr mit Mühe und Arbeit, sondern nur noch mit „Wochenend und Sonnenschein“ zu tun hatte – und der zunehmend auch für genau diese Freizeitbedürfnisse eingerichtet wurde. Wanderwege wurden planiert, schöne Aussichten und Lichtungen angelegt, alle potenziell gefährlichen Wildtiere ausgerottet und Sümpfe trockengelegt.

HS: Die Natur wird inszeniert, um sie als Natur erlebbar zu machen?

GH: So wie man erst nach Erfindung des Blitzableiters in die Lage kam, ein Gewitter als erhabenes Naturschauspiel genießen zu können, so konnte auch die ungetrübte „Waldlust“ erst aufkommen, als der Aufenthalt dort unter kontrollierten und sicheren Bedingungen möglich war. Und andererseits etablierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die rationale Forstwirtschaft und gestaltete die deutschen Wälder innerhalb weniger Jahrzehnte gravierend um: Um den gewaltigen Bau- und Brennholzbedarf zu decken, wurde vor allem auf den Anbau der schnellwüchsigen Fichte gesetzt, außerdem wurde die Waldweidehaltung von Nutztieren fast überall abgeschafft. Diese deutlich wahrnehmbare Umwandlung der Landschaft weckte ein breiteres Bewusstsein dafür, dass die Schönheit und Vielfalt alter Bäume und Wälder etwas Schützenswertes sei. Hier liegen die frühen Anfänge der Umweltschutzbewegungen, wobei damals interessanterweise oft auf die „kulturelle“ Bedeutung des Waldes hingewiesen wurde: Der deutsche Wald habe so viele schöne Gedichte und Lieder „hervorgebracht“ und müsse schon deshalb unbedingt erhalten bleiben. Bekannte Musikstücke wie Robert Schumanns Klavierzyklus Waldszenen op. 82 oder auch das „Waldweben“ aus Richard Wagners Siegfried wurden also gewissermaßen zu klingenden Argumenten für den Waldschutz.

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HS: Kann denn der passionierte Wanderer Georg Högl überhaupt noch unbefangen in den Wald gehen – oder klingt da immer Deine Forschung, die ganze Kulturgeschichte des Waldes, Freischütz, Siegfried und Robert Schumann mit?

GH: Da meine Familie ein kleines Waldstück besitzt, helfe ich dort gern beim Pflanzen und Hegen der Bäume. Da bewegt man sich abseits der Wege, hält sich über längere Zeit an einem Fleck auf und entwickelt einen sehr praktischen Blick auf einen überschaubaren Naturausschnitt, ganz anders als etwa beim Wandern. So spielen also immer sehr unterschiedliche Sichtweisen zusammen, wenn ich Wald betrete. Und natürlich bin ich durch meine Beschäftigung mit der Thematik inzwischen auch für die akustischen Eindrücke stärker sensibilisiert. Wenn eine Windböe durch die Wipfel geht und das dumpfe Geräusch anschwillt, dann ruft mir das unweigerlich das romantische „Waldesrauschen“ in den Sinn. – Und wer bleibt schon ganz unbefangen, wenn er in den Wald geht?

Über unseren Gesprächspartner:

Georg Ewald Högl wurde 1988 in Landshut geboren und besuchte das Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen. Nach dem Zivildienst studierte er Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und an der Università degli Studi di Pavia in Cremona.

Musikalisch ist er vor allem als Chorsänger und -leiter aktiv. Seit Februar 2015 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Richard Wagner Schriften“ am Würzburger Institut für Musikforschung. 2021 promovierte er mit der Arbeit Wald – Weber – Wagner. Studien zur Waldthematik in der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts.

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